Der Gleitschirmunfall, der Thomas Lämmle das Leben rettete

Ohne Sauerstoffflasche bestieg der Waldburger Thomas Lämmle den Mount Everest, doch nach einem lebensgefährlichen Flugunfall saß er im Rollstuhl. Nun will er wieder auf den Kilimandscharo – und musste dafür das Laufen neu lernen.
Eigentlich hätte es ein normaler Trainingsflug werden sollen. So wie er sie schon hunderte Mal absolviert hatte: Zu Fuß auf den Hochgrat und noch vor dem Mittag, bevor sich der Wind dreht, mit dem Gleitschirm wieder herunterfliegen.
An diesem 23. April jedoch, einem Donnerstag, verquatscht sich der Waldburger Thomas Lämmle an der Absprungstelle mit zwei Piloten. Sie wollen alles über seinen außergewöhnlichen Gleitschirmflug vom Gipfel des Kilimandscharos erfahren: Eine ganze Stunde dauerte dieser, um im Sinkflug 37 Kilometer Strecke zurückzulegen, mit GPS durch eine dichte Wolkendecke hindurch zu brechen, um dann mitten in der Savanne zu landen.
Früher, da hätte er einen ganzen Tag für den Abstieg vom 5000 Meter hohen Kilimandscharo gebraucht und die Knie hätten geschmerzt. Dem Gleitschirm sei Dank entspannte sich Lämmle damals bereits zwei Stunden nach Start am Pool.

Zurück auf den Hochgrat: Wow, was für ein Flug, aus Lämmle spricht die Begeisterung, die Zeit vergeht, nun ja, wie im Flug, und der Wind dreht unbemerkt. Lämmle sieht zu, wie die Piloten starten, sich hochschrauben und in Richtung Westen davonfliegen. Nun ist Lämmle an der Reihe. Er dreht sich um, zieht seinen Schirm in die Luft über seinem Kopf, dreht sich wieder nach vorn, blickt in die tiefstehende Sonne im Süden und hat ab diesem Moment keine Erinnerung mehr an das, was als nächstes geschehen ist. Erfahren wird er es erst Wochen später – und zwar zufällig.
„Als ich wieder zu mir kam, blickte ich in eine Lampe im Aufwachraum“, beschreibt Lämmle seine erste Erinnerung, die einem Film entstammen könnte. Darin wird ihm erklärt: Abgestürzt sei er, mit dem Rettungshubschrauber nach Ravensburg gebracht worden, die Hüfte sei zerschmettert und er habe innerlich vier Liter Blut verloren, er schwebte in Lebensgefahr, doch das Operationsteam um Chefarzt Franz Maurer habe ihn stabilisieren können. Aber der Verdacht bestehe, dass er querschnittsgelähmt sei. Das müssten nun Tests zeigen. Die Beine spürt Thomas Lämmle jedenfalls nicht und er muss sich mit dem Gedanken beschäftigen, dass er möglicherweise nie wieder wird laufen können. Geschweige denn auf Berge steigen.
Um den Absturz zu rekonstruieren, wird umgehend nach dem unbekannten Anrufer gesucht, der die Rettungskräfte alarmierte. Der muss es ja gesehen haben. Auf den Zeugenaufruf in der Zeitung meldet sich niemand. Dann geschieht es, dass Lämmles Frau Heike eine alte Nachricht auf dem Anrufbeantworter abhört. Es ist Thomas, der mittteilt, dass er eben abgestürzt ist und einen Notruf abgesetzt hat. Es stellt sich heraus, dass Lämmle den Absturz und die Rettung bei vollem Bewusstsein miterlebt hat.
Das hat schon einen Grund, warum das Gehirn das ausgeblendet hat, sagte sie mir.
Thomas Lämmle
Aber dass sein Gehirn die Erinnerung ab der Startsekunde wieder komplett ausgeblendet hat. „Eine Psychologin, mit der ich in der Therapie sprach, empfahl mir auch, das erst einmal so zu lassen“, sagt Lämmle, „das hat schon einen Grund, warum das Gehirn das ausgeblendet hat, sagte sie mir.“

Ans Bett gefesselt hat er nun viel Zeit, um sich Gedanken zu machen: Wie es weitergehen wird mit ihm und seiner Familie, die ihn im Krankenhaus wegen der Corona-Pandemie nicht einmal besuchen darf und über seinen Gesundheitszustand nach der Notoperation nur telefonisch informiert wurde. Es sind schwere Zeiten für seine Frau und die sechs Kinder, von denen fünf bereits studieren. Wenn Lämmle nicht gerade auf Berge steigt, dann unterrichtet er als Sonderschulpädagoge Sport und Technik in Altshausen oder ist in der Höhenforschung für die Universität Innsbruck tätig.
Und er macht sich auch Gedanken darüber, wie es weitergehen soll mit seinen Freunden in Tansania am Fuße des Kilimandscharos, die davon leben, Touristen sicher auf den Berg zu führen. Touristen, die ihnen auch Lämmles Non Profit Organisation „Extrek Africa“ vermittelt. In diesem Sommer aber bleiben die Touristen aus und für die Bergführer, Träger, Köche und deren Familien beginnt ein Kampf ums Überleben. Sie alle, findet Lämmle, trifft ein härteres Schicksal als ihn.
Wie kann er helfen, fragt er sich. Nur mit seinem Handy ausgestattet stößt Lämmle im Krankenbett einen Spendenaufruf an und sammelt genug Geld ein, um alle 50 Familien durch den Sommer zu bringen. Am Ende ist sogar genug Geld da, um Land zu kaufen, einen Brunnen zu graben und ein Farmhaus zu errichten. In Tansania wächst alles schnell. Mittlerweile wurden die ersten Bananen, Avocados und Papayas geerntet.

Dann liegen die Ergebnisse der Computertomographie vor: Das Rückenmark ist intakt geblieben. Aufatmen, ein Hoffnungsschimmer. Das Krankenhaus verlassen kann er trotzdem nur im Rollstuhl. In der Reha wird er in eine Gehhilfe gestellt, in der er sich mit den Armen aufstützen muss. Aber die Beine wollen sich nicht bewegen. „Ich konnte nicht mehr laufen“, erklärt Lämmle, „das war so, als ob mein Gehirn das verlernt hätte.“
Deshalb muss er das Laufen noch einmal neu erlernen:Sich in Gedanken vorstellen, wie das aussehen soll, seine Beine dabei ansehen und ihnen befehlen, sich zu bewegen. Irgendwann dann die erste Regung. Sie weckt Lämmles Ehrgeiz. Er will stark genug werden, um ohne Hilfe gehen zu können.
Das rechte Bein spielt mit, das linke nicht. Das bleibt gelähmt. Der Ischias-Nerv ist inaktiv und für das Gehirn sozusagen unsichtbar. Lämmle trainiert weiter, stimuliert die Beinmuskulatur mit Elektroschocks, damit sie nicht verloren geht. Ohne Reize wandeln sich Muskeln in Bindegewebe um. Aber wenn der Ischias wieder aktiv werden sollte, braucht er Muskeln. Lämmle bleibt dran.

Mitten in die Erfolge der Reha platzt der Zufall. Lämmle begegnet einem alten Freund. Sie sprechen über den Unfall. Kaum zu glauben, aber dessen Arbeitskollege hat den Absturz mitverfolgt. Lämmle erfährt nun – Wochen später – was nach dem Start auf dem Hochgrat geschehen ist: Dem Augenzeugen zufolge soll er sich in etwa 20 Meter Höhe befunden haben, als ein Windstoß die rechte Seite seines Schirms eindrückte. Lämmle wurde in einer Spirale nach rechts und mit voller Wucht auf dem Boden geschleudert.
Das bestätigt Lämmle, was er schon vermutet hatte: Im Frühjahr sei es gefährlich am Hochgrat, erklärt er. Vormittags ströme die Luft aus dem Süden den Hang nach oben und von dort in die Höhe. Am Nachmittag aber drehe der Wind, ströme von Norden her über den Berg hinweg und verwirbele sich dort zu einer sogenannten „Leewalze“. Lämmle ist sich nun sicher, dass er in diese Luftwalze geflogen ist und sie ihm von oben auf den Schirm gedrückt hat.
Wie gefährlich es im Frühjahr auf dem Hochgrat ist, habe er gewusst. Hätte er nicht die beiden Piloten getroffen, hätte er sich nicht verquatscht mit ihnen, hätte er die beiden nicht vor sich starten und hätte er sie nicht ohne Probleme wegfliegen sehen, hätte er also nicht zu spät und zu selbstsicher am Start gestanden, hätte sich der Absturz wohl nicht ereignet. Hätte, hätte – was passiert ist, ist passiert.

Und was passiert ist, das erzählt Lämmle heute, wenige Wochen nach seiner dritten Reha, an einem dunkelgrauen Dezembertag, während er langsam, aber stetig den 50 Meter hohen Kohlenberg in Waldburg hinaufsteigt. Die linke Krücke knarzt bei jedem Schritt. Vielleicht deshalb, weil die Belastung auf dieser Seite größer ist.
Den linken Fuß spürt Lämmle immer noch nicht. Aber das hält ihn nicht davon ab, den Hügel zu erklimmen, als wäre es der Kilimandscharo. Ein bisschen sieht der Kohlenberg sogar aus wie der 5000er in Tansania. „Im Sommer will ich wieder hin“, sagt er zuversichtlich, „und zum 66. Mal auf den ‚Kili‘ steigen. Und wenn es nur mit Krücken geht, dann ist das eben so.“
Die Eigenart dort sei, dass man sehr, sehr langsam laufen müsse, weil man sich durch fünf klimatische Zonen bewege und sich akklimatisieren müsse. „Aber schwer ist er nicht. Jeder gesunde Mensch kann auf den Kili steigen“, sagt er lachend, „also auch jeder Mensch mit Krücken.“ Als er den Kohlenberg das erste Mal nach seinem Unfall bestieg, brauchte er zwei Stunden. Jetzt, ein paar Wochen später, keine zehn Minuten mehr.
Der Absturz ist für mich kein schrecklicher Unfall.
Thomas Lämmle
Oben angekommen, lehnt er sich an das Metallgeländer und verschnauft, blickt in die graue Suppe und sagt: „Der Absturz ist für mich kein schrecklicher Unfall. Wenn ich aus heutiger Sicht zurückblicke, war ich damals völlig wahnsinnig. Und ich glaube, der Unfall hat mir das Leben gerettet.“
Höher, schneller, weiter. Danach habe er nicht nur sein Training, sondern auch sein Leben ausgerichtet. Losgegangen sei es, nachdem er den Mount Everest ohne Sauerstoff bestiegen hatte. Dann folgten die 8000er Makalu und Lhotse – ebenfalls ohne Sauerstoff und direkt hintereinander in einer einzigen Tour (diese Tour erleben Sie im Video).
Plötzlich fing er auch wieder mit dem Gleitschirmfliegen an. Obwohl er sich schon einmal geschworen hatte, nie wieder zu fliegen. Damals, das war vor 25 Jahren, als er ein junger Student in Weingarten war, fing er an mit der Fliegerei. Notfallschirme waren da noch nicht Standard. Und als sich mitten im Flug sein Schirm verwickelte, strudelte er manövrierunfähig zu Boden.
Das hätte seinen Tod bedeutet, hätte da nicht direkt unter ihm mitten im Feld ein Baum gestanden, in dem sich sein Schirm verfing, sodass er zwei Meter über dem Boden in den Seilen hängend aufgefangen wurde. „Dass ich das damals überlebt habe, grenzt schon an ein Wunder“, gesteht Lämmle. Eine vernünftige Erklärung, warum er trotzdem wieder mit dem Fliegen angefangen hat, bleibt er schuldig. Es sei eben lang her gewesen, die Technik habe sich ja auch verbessert, außerdem sei er ständig gefragt worden, was als nächstes komme, und, naja, wenn er sich etwas in den Kopf setze, dann…
In den Kopf gesetzt hatte er sich also das Gleitschirmfliegen in extremer Höhe. Als Sportwissenschaftler erforschte er die menschliche Leistungsfähigkeit in der Todeszone. Mit Höhen kannte er sich also aus. Seine zahlreichen Gipfelstürme bestätigten die Theorie, die ihm zu Kraft und Kondition verhalf.
So fing er an zu träumen: Einmal mit dem Gleitschirm von einem 8000er abfliegen. Nach einigen Testsprüngen von Kilimandscharo und Elbruss schien das machbar und sicher genug – aus damaliger Sicht. „Ich war irre“, sagt Lämmle jetzt. „Heute bin ich mir sicher, dass ich irgendwann gestorben wäre, wenn ich angefangen hätte, von den 8000ern zu springen. Vielleicht nicht beim ersten Mal. Aber irgendwann dann doch.“
Ich glaube, ich habe so einen Weckruf gebraucht.
Thomas Lämmle
Schließlich sei es schon gefährlich genug, in dieser Höhe zu klettern. Herunterzufliegen mache es ja nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil. „Ich glaube, ich habe so einen Weckruf gebraucht. Ein gebrochener Fuß hätte da nicht ausgereicht. Das hatte ich schon und hab weitergemacht.“
Seit dem Absturz habe nun alles einen anderen Stellenwert für ihn. Als er im Krankenhaus lag, in einem Zustand, von dem er heute nicht mehr weiß, ob er wach oder narkotisiert war, gab es einen bewussten Moment, in dem er spürte, dass er sich entscheiden müsse: Einfach loszulassen oder zu kämpfen und zu überleben. Da habe er festgestellt, dass es keine Rolle spiele, auf welche Berge er gestiegen sei, sondern nur, welche Beziehungen er geführt hatte. „Ich hatte so viel Mist gebaut, dachte ich mir. Und dachte: So darf ich nicht gehen. Die Familie ist viel zu kurz gekommen.“

Ob es bei all dem Risiko, dass er einzugehen bereit war, nicht schon unverschämt glücklich sei, dass er nicht nur überlebt habe, sondern wieder laufen könne – wenn auch nur mit Krücken? Lämmle nickt und zeigt in den grauen Himmel. „Ich glaube, der da oben hat noch was vor mit mir. Irgendeinen Grund muss es geben, warum ich noch lebe.“
Lämmle meint, dieser Grund könnte – von seiner Familie einmal abgesehen – sein, dass er sich mehr um seine Freunde in Afrika kümmern soll. Mit seiner ersten, privat organisierten Spendenaktion im Krankenhaus habe er dafür sorgen können, dass die 50 Familien, die vom Tourismus in der Region abhängig sind, ein Auskommen haben, wenigstens schon mal für 2020. „Ich rechne aber nicht damit, dass der Tourismus vor dem kommenden Sommer überhaupt wieder startet“, sagt Lämmle. „Erst wenn Corona im Griff ist und die Menschen wieder verreisen können.“
Damit seine Freunde bis dahin durchhalten können, hat Lämmle eine weitere Spendenaktion gestartet und sich damit an die „Schwäbische Zeitung“ gewandt. „Mir geht es vor allen Dingen um die Träger“, erklärt er, „das sind die Allerärmsten.“

Von der akuten Notlage abgesehen, will Lämmle aber auch ein zweites Standbein für die Menschen aufbauen, damit sie in Zukunft nicht mehr ausschließlich vom Tourismus abhängig sind. Er möchte gern weiteres Land kaufen, um den Farmbetrieb zu vergrößern. Bleiben Touristen aus, können die Träger auf der Farm arbeiten, um sich und ihren Familien den Lebensunterhalt weiter zu sichern. Was sie ernten, können sie nicht nur selbst essen, sondern mit dem Geld aus dem Verkauf auch die Mieten bezahlen.
Außerdem sollen auf der Farm Unterkünfte entstehen, Gästehäuser, die die Menschen dort betreiben können. „Ich stelle mir das so vor wie bei uns: ,Ferien auf dem Bauernhof’, sagt Lämmle, „aber halt in Tansania.“ Der Verein, der notwendig ist, um all die Projekte zu verwirklichen, ist mittlerweile auch gegründet: „Friends of Extrek Africa“ heißt er und hat seinen Sitz in Waldburg.
Das Beste, was den Menschen dort passieren kann, ist ja, dass Touristen hinfliegen, um auf den Kili zu steigen.
Thomas Lämmle
Lämmle denkt nun langfristig. Seinem besten Freund und Partner in Afrika, Richard Mollel, habe er gesagt, er wolle mit ihm die 100 Mal auf den Kilimandscharo voll machen. Und möglichst viele Touristen mitbringen. Denn: „Das Beste, was den Menschen dort passieren kann, ist ja, dass Touristen hinfliegen, um auf den Kili zu steigen.“ Mit einer einzigen Besteigung haben fünf bis sechs Einheimische genug Arbeit, um ihre Familien für ein bis zwei Monate zu versorgen, erklärt Lämmle.
Als Bergsteiger kann Thomas Lämmle nicht aus seiner Haut. Aber der Grund, der ihn antreibt, auf Berge zu steigen, der könnte den ganzen Unterschied machen. Für sich, für seine Familie und auch für die Menschen in Tansania, die ihm so sehr ans Herz gewachsen sind.
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