Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent

Arbeitsproben

Wer bloß teilt, entledigt sich des eigenen Denkens

13. Mai 2020 Essay, Text
Wer bloß teilt, entledigt sich des eigenen Denkens

Wer sich dieser Tage durch das Netz bewegt, der wird gerne mal daran erinnert, dass die Fähigkeit, eigene Gedanken anzustellen, allein den Schwurblern und Verschwörern vorbehalten ist. Der Rest ist ihnen zufolge nämlich viel zu dumm dazu und überlässt das Denken deshalb lieber anderen – zumal den falschen.

An jeder virtuellen Ecke kann man dieser Tage Menschen förmlich brüllen hören, dass sie gar niemandem Glauben schenken mögen – nicht diesen selbsternannten Virologen, schon gar nicht der Bundesregierung, und am allerwenigsten den “gleichgeschalteten Systemmedien”.

Und es sei ja auch gar nicht nötig, irgendjemandem irgendetwas zu glauben, denn im Gegensatz zu den „Schlafschafen“ sei man ja immer noch in der Lage, eigene Gedanken anzustellen.

Als Beleg des Denkens eigener Gedanken wird dann meist ein Link geteilt. Dieser führt dann zu einem Video, in dem wieder andere ihre Gedanken zum Ausdruck bringen: Dann dürfen die Wodargs, Schiffmanns und Bhakdis dieser Erde ihre eigensinnigen Hypothesen wiederkäuen.

Doch die teilende Netzgemeinschaft erliegt einem Trugschluss, denn: Ich denke, also teile ich – geht als Prämisse nicht auf.

Denn der Akt, mit dem Finger auf einer glatten Oberfläche einen virtuellen Teilen-Button zu tippen, ist kein aktiver Denkprozess. Ein Mitteilungsbedürfnis mag dem vorausgegangen sein, aber das macht das Teilen nicht gedankenvoller. Denn am Ende steht kein eigener Gedanke geschrieben, sondern lediglich der Hinweis eines Algorithmus‘: “Irgendwer hat einen Beitrag geteilt.”

Menschen, die eifrig fragwürdige Videos teilen, bezeichnen sich selbst gerne als „andersdenkend“ – um sich vom Mainstream abzusetzen. Aber der Begriff ist ungewollt ironisch. Denn ihm liegt das Andere, das Externe, das Dritte inne, und nicht das Eigene. Andersdenkende denken das Andere und nicht das Selbsterdachte, sonst hieße es „Selbstdenkende“.

In den Kopf dieser Andersdenkenden hineinzuschauen, ist kaum möglich. Wer weiß, was darin vor sich geht? Ob Vakuum herrscht oder ob Synapsen eigene Gedanken weben. Das soll ihnen ja gegönnt sein. Aber warum, stellt sich die Frage, bringen sie ihre eigenen Gedanken fast nie zum Ausdruck? Warum schreiben sie ihre Gedanken nicht mit eigenen Worten auf, malen eigene Bilder und stellen eigenen Videos ins Netz?

Gemessen am Verhältnis von geteilten Beiträgen zu eigenen Worten, ermangelt es der teilenden Masse offensichtlich an Ausdrucksfähigkeit. Vielleicht, weil ihnen die Gedankenkraft dazu fehlt?

In WhatsApp-Gruppen und Facebook-Timelines tauchen jedenfalls die immer selben Videos meist nur kommentarlos auf. Sie stehen einfach nur da, als für sich stehendes Statement, fast nie begleitet von originellen Gedanken. Wer Schwurbler in der eigenen Familiengruppe zu beklagen hat, der hat sich längst ein Bild von deren Wortlosigkeit gemacht.

In der Realität, im Gespräch von Angesicht zu Angesicht, da gibt es keinen Teilen-Button. Aber das hält die Andersdenkenden nicht davon ab, ihr Andersgedachtes mitzuteilen. Da heißt es dann, dass Merkel bald für alles wird bezahlen müssen, dass die schlafende Herde ja an der Nase herumgeführt werde, aber glücklicherweise langsam aufwache, und dass man sich ja immerhin noch seine eigenen Gedanken machen könne.

Die Sprache, die da benutzt wird, bringt ans Licht, wie viel Zeit die Menschen mit den viral verbreiteten Videos im Internet verbringen! So schleichen sich die Kampfbegriffe der Schwurbler und Verschwörer in unsere Alltagssprache ein. Was haben wir uns noch an den Kopf gelangt, als Trumps ehemalige Pressesprecherin der Welt „alternative Fakten“ verkaufen wollte. Aber die „alternativen Wahrheiten“, die Videos in jedem zweiten Titel versprechen, sind im Netz akzeptierte Normalität. Jeder, sagen „Andersdenkende“, darf seine eigene Wahrheit haben.

Schön wäre es tatsächlich, wenn jeder seine eigene Wahrheit hätte. Das ist aber nicht der Fall. Denn diese wird erdacht von den Professionellen unter den Andersdenkenden: von denen, die sich Vordenker nennen.

Die Vordenker jedenfalls zeigen sich anpassungsfähig. Neuerdings werden sie in ihren Videos mit Statistiken nur so um sich. Früher war keiner Statistik zu trauen, die man nicht selbst gefälscht hatte. Mittlerweile können Zahlen kaum offiziell genug sein. Ob von der WHO oder vom RKI – je hochrangiger, desto authentischer lassen sich Fehlschlüsse ableiten.

Wenn sich Vordenker allerdings Zahlen anderer zu eigen machen, dann verlieren sie ihre Vordenkerschaft. Die Zahlen, die sie verwenden, wurden vor ihnen schließlich von anderen erdacht.

So wie der Wolf es im Schafspelz tut, verkleiden sich die Schwurbler und Verschwörer mit dem statistischen Fell der anerkannten Wissenschaft, um bei den Andersdenkenden Glaubwürdigkeit vorzutäuschen. Die Schlüsse, die sie daraus ziehen, sind natürlich wissenschaftlich alternative.

Aber hey, solange die Ausgangsdaten richtig sind, können die Schlüsse nicht falsch sein. Egal wie absurd sie sein sollten, wer würde es merken? Die teilenden Massen sicherlich nicht. Selbst recherchieren und kalkulieren? Nein, vielen Dank, das wäre dann doch zu viel Arbeit. Und auch gar nicht notwendig! Weil es doch den Teilen-Button gibt, der die Mühe des eigenen Denkens und Schreibens und Redens so wohlgefällig abnimmt:

Ich teile, also habe ich endlich meine Ruhe.

Woher aber kommt dieser Hype um die Schwurbler und Verschwörer? Ist denn der Großteil der Menschheit über Nacht meschugge geworden? Wie lässt sich der virale Erfolg der Jebsens, Hildmanns und Naidoos erklären?

Die Antwort darauf ist in einem feinen Unterschied zu finden: Die Verschwörungstheorien, die sich vor der Krise viral verbreiteten, sind geistige Brandstifter. Sie wiegeln auf, stacheln an und sehen Gefahren, wo es keine gibt. Die alternativen Erklärungen, die sich in der Corona-Krise verbreiten, wiegeln dagegen ab, beschwichtigen und verwässern die Gefahr ins Bedeutungslose.

Die Gefahr zu bannen, darum geht es den Menschen. Wenn sie Videos teilen, dann beruhigen sie sich damit selbst. Als würden sie eine Pille einwerfen, die gegen die unsichtbare Gefahr immunisiert. Der Hype ist eine Art kollektiver Verdrängungsmechanismus, eine psychologische Schutzimpfung.

Der Gedanke hat auch etwas Tröstliches. Denn wenn das Virus unter Kontrolle gebracht sein wird, muss es auch nicht mehr mental bekämpft werden. Die Videos, die uns gegenwärtig auf die Nerven gehen, werden dann selbst in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Es hilft derweil, den Selbstheilungskräften der Gesellschaft zu vertrauen. Das intellektuelle Immunsystem hat gerade erst begonnen, sich den unerwünschten Eindringlingen entgegenzustellen: Mit Witz und Sarkasmus ziehen sie in den Kampf.

Kleine Kostprobe gefällig? Da haben sich Bill Gates und Angela Merkel jahrelang so viel Mühe gegeben, im Geheimen einen Plan zu entwickeln, um die Menschheit zu unterjochen, und dann sind ihre geheimen Machenschaften ausgerechnet Xavier Naidoo und Attila Hildmann in die Hände gefallen. Was für eine Schande.

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Erschienen am 8. Mai 2020 in der Schwäbischen Zeitung.