Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
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Arbeitsproben

Zum Schabernack gezwungen – Warum eine Dienstpflicht sinnlos ist

8. Januar 2020 Essay, Text
Zum Schabernack gezwungen – Warum eine Dienstpflicht sinnlos ist

Der demütigendste Moment in meinem Leben? Ich war 18 Jahre alt und musste in Ravensburg zum Kreiswehrersatzamt, um mich für den Wehrdienst mustern zu lassen. Ich stand mitten in einem riesigen Büroraum neben zwei Schreibtischen, an denen der Amtsarzt und, ihm gegenüber, eine Sekretärin saßen. Nach der Standardprozedur sagte er zu mir: „Ziehen Sie nun die Hosen bis auf Knie herunter”. Ich ahnte, was folgen sollte, blickte irritiert auf die Frau und fragte: „Hier?” Der Arzt brachte nichts Tröstlicheres als ein gelangweiltes „Ja”, heraus.

Obwohl die Frau höflich genug war, mich professionell zu ignorieren, fühlte es sich an, als schöb ich nicht nur meine Hosen, sondern auch meine Würde bis unter meine Knie. Da stand ich nun, mit einer Hand am Hoden, hustete künstlich, und hasste alsbald die Wehrpflicht. Wenig später verließ ich das Kreiswehrersatzamt mit der Einstufung: „T3 – verwendungsfähig mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten”.

Ich verweigerte.

Im Oktober 1999 trat ich sodann meinen Zivildienst im Klinikum der Stadt Konstanz an. Funktion: Hol- und Bringdienst. Dazu wurde ich mit einem Piepser ausgestattet, der viermal piepste, wenn ich eine Durchwahl zurückrufen sollte. Am Telefon erfuhr ich dann von der mir zugewiesenen Station, was ich zu tun hatte: Ein frisches Bett aus der Bettenstation holen, eine Blutprobe ins Labor, Herrn Müller aus C-34 zum Röntgen oder Frau Schneider aus der Schmerzklinik zurück ins Zimmer. Da kamen schon einige Kilometer täglich zusammen.

Aber der Piepser fühlte sich für uns – zwischen 10 und 14 Hol- und Bringdienst-Zivis – keineswegs wie eine Fußfessel an. Das Gegenteil war der Fall: Er bedeutete Freiheit. Dank des Piepsers hingen wir Zivis überall im Krankenhaus herum, nur nicht auf unserer zugewiesenen Station. Von Nickerchen im Wohnheim über Fernsehgucken auf der Gynäkologie bis hin zu Fußballspiel auf dem Hubschrauberlandeplatz war alles drin. Gäbe es Arbeit, würden sie uns ja anpiepsen. Wetten liefen, welcher Piepser seinen Inhaber zuerst aus dem Müßiggang zurück in die Pflichterfüllung reißen würde.

Es waren herrliche elf Monate. Im Vergleich zur Schule natürlich richtige Arbeit – fünf Tage die Woche, achteinhalb Stunden täglich – aber um Betten durch endlose Gänge zu steuern, muss man keinen funktionierenden Kopf haben. So kam es dann auch, dass ich zum ersten Mal am eigenen Leib spürte, was es bedeutet, nach einer langen Studentenparty und nur drei Stunden Schlaf mit einem gehörigen Pegel Restalkohol im Blut zur Arbeit zu gehen und erst dort auszunüchtern. Ziemlich unverschämt, ja, aber hey, ich gebe es immerhin zu.

Seit damals frage ich mich jedenfalls oft, inwieweit ich der Gesellschaft da eigentlich einen Bärenzivildienst erwiesen habe und inwiefern mich der Dienst als Mensch gebildet hat?

So muss ich leider konstatieren: Vor meinem Zivildienst hatte ich nur selten geraucht, moderat getrunken, auf Fleisch eher verzichtet, noch nie einen Joint selbst gedreht und meinen Bauch zierte ein sportlicher Sixpack. Elf Monate später rauchte ich eine Schachtel Kippen täglich, tauchte ich wochenends ins Nachtleben ein und tagsüber in Fastfoodrestaurants unter, weshalb ich Nachhinein gar nicht so sehr überrascht hätte sein dürfen, als ich feststellte, dass mir mein Sixpack abhanden gekommen war.

Was hatte der soziale Dienst nur mit mir angestellt?

Was ich studiert habe? Philosophie, Soziologie und Kunst- und Medienwissenschaften – Magister. Das Klischee hätte ich nur dann komplettiert, wenn ich Rastas und Batikklamotten getragen hätte.

Fragt man mich heute, wie ich meinen Zivildienst erlebt habe, so zitiere ich die Band Juli: „Es war ne geile Zeit”. Aber auf die Frage, ob diese elf Pflichtmonate mich sozial entwickelt oder das Gemeinwesen gefördert haben, fällt mir eher Udo Lindenberg ein: „Einer muss den Job ja machen”. Eher noch als zu sagen, der Zivildienst am Klinikum Konstanz hätte Blut durch meine sozialen Adern gepumpt, sage ich heute, dass mich der Zivildienst halt irgendwie sozialisiert hat. Hätten der Naturschutzbund oder der Wangener Sportverein mich als Zivi eingestellt, wäre ich wohl recht ähnlich sozialisiert worden. Natürlich habe ich im Krankenhaus Dinge erlebt, die mich aufgewühlt haben und die mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind. Aber ich kann nicht feststellen, dass mein Leben dadurch eine andere Wendung genommen hat. Neue Freunde, das neu entdeckte Stadtleben und neue Hobbys haben mich zu der Zeit sehr viel mehr beschäftigt. All das hätte ich auch erlebt, wenn ich gleichzeitig studieren hätte können.

Ich denke jedenfalls nicht, dass mein Zivildiensterlebnis verpflichtend für alle sein sollte. Freiwillig meinetwegen. Freiwillig vielleicht sogar: unbedingt! Aber nicht als Zwang. Genügend Zivikollegen haben sich dem Dienstzwang sowieso fast grundsätzlich verweigert und gefühlt mehr blau gemacht als gearbeitet. Von wertvoller sozialer Teilhabe kann da nicht die Rede sein.

Da muss man sich auch mal in die andere Seite hineinversetzen: in die damalige Pflegedienstleitung, die uns Zivi-Idioten an der Backe hatte und – ziemlich egal, was für Schabernack wir getrieben haben – ja auch kaum loswerden konnte. Was für einen gesellschaftlichen Nutzen soll das gehabt haben, die Nerven des redlich bemühten Leitungspersonals täglich mit Krankmeldungen und Faulenzerei bis aufs äußerste zu strapazieren?

Nein, ich kann den Vorteil einer Dienstpflicht nicht erkennen. Sinnvoller wäre es, das Freie Soziale Jahr cooler zu machen, damit ein solches Lebensjahr nicht bloß eine „geile” Zeit wird, sondern eine konstruktive. Damit den jungen Menschen nicht von Dienst wegen ein Jahr verschwendet wird, sondern ihnen sinnvolle Lebenszeit geschenkt.

Wer von vornherein nicht muss, der muss sich auch nicht drum drücken.