Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent

Arbeitsproben

Overtourism in Island – das Land, in dem Fotografen an jeder Ecke Schlange stehen

30. November 2018 Feature, Multimediareportage, Text
Overtourism in Island – das Land, in dem Fotografen an jeder Ecke Schlange stehen

Das mit den Polarlichtern ist gar nicht so einfach. Nicht nur, dass sie gar nicht leuchtend grün am Himmel funkeln, so wie farbenprächtige Werbefotos das Glauben machen wollen, sondern vielmehr wie ein hauchdünner weißer Nebel am Himmel wabern. Sondern auch deshalb, weil Islands Himmel in den Übergangsmonaten an 20 von 30 Tagen von einer dicken Wolkenschicht bedeckt ist.

Darauf sollte man vorbereitet sein. Zumindest dann, wenn man extra der Polarlichter wegen auf die Insel zwischen Nordeuropa und Grönland fliegt. Die Wahrscheinlichkeit, die Lichter zu sehen, ist bei einer siebentägigen Reise äußerst gering: Der Himmel muss wolkenfrei sein und die Aktivität der Aurora Borealis hoch, außerdem darf der Mond die Nordlichter nicht überstrahlen, und die Augen müssen sensibel genug im Dunkeln sein.

Wenn das alles stimmt, dann braucht es noch eine Langzeitbelichtung, um das Farbspektrum der Polarlichter zum Vorschein zu bringen.

Die dritte Nacht unter betonartiger Wolkendecke wollen wir nicht mehr akzeptieren und fahren zwei Stunden lang in der Gegend herum, um nach einer Lücke Ausschau zu halten. Plötzlich funkeln Sterne. Wir halten auf einem Parkplatz und richten unsere Fotoapparate in den Himmel. Und tatsächlich, das Display macht grüne Streifen hinter Wolkenschleiern sichtbar.

Andere Autofahrer bemerken uns und halten ebenfalls. Schließlich jagen alle Touristen, die im späten Herbst, im tiefen Winter oder frühen Frühjahr hier sind, nach den Polarlichtern. So auch eine Gruppe Italiener, die ihrem Ärger laut Luft macht, weil sie die Lichter nicht mit bloßem Auge sehen kann. Was heißt Langzeitbelichtung auf Italienisch? Weil deren Smartphones nicht die gleichen Ergebnisse liefern wie unsere Systemkameras, fotografieren sie am Ende zur Erinnerung unsere Displays ab.

All das passiert bei vergleichsweise milden Temperaturen. Irgendwas zwischen fünf und zehn Grad Celsius. Die Fotoapparate bedienen wir jedenfalls ohne Handschuhe. Eigentlich hatten wir mit tiefen Minusgraden gerechnet. Immerhin gehört Island klimatisch zur Polarregion. Aber so richtig kalt wird es im Süden der Insel, in dem wir uns aufhalten, selbst im Winter nur selten. Denn dort fließt warmes Wasser aus dem Irmingerstrom vorbei. Die Temperatur des Atlantiks schwankt stabil zwischen null und sechs Grad. Das balanciert Islands Klima aus.

Wir sind zwar froh um unsere Skiklamotten, weil man auf Dauer im Freien auskühlt. Auf Handwärmer hätten wir aber gut verzichten können. Richtig unangenehm ist nur der Wind, der häufig über die Insel hinwegfegt, und der Nieselregen, der sich regelmäßig dazumischt.

In den Übergangsmonaten soll die Aktivität der Polarlichter am größten sein. Entsprechend groß ist die Enttäuschung während der ersten Tage. Doch wir werden die Polarlichter ein weiteres Mal sehen. Und zwar auf der zweieinhalbstündigen Fahrt der Autofähre nach Vestmannaeyjar. Wegen des Seegangs sitzen wir an Deck.

Plötzlich reißt der Himmel auf und ein furioses Lichterballett beginnt über uns zu tanzen, so hell, dass wir die schimmernden Farben diesmal sogar mit bloßem Auge erkennen. An eine Langzeitbelichtung ist auf der Fähre sowieso nicht zu denken. Schade. Oder glücklicherweise. Man muss ja nicht jeden zauberhaften Moment durch das Objektiv einer Kamera erleben.

Zu viele Menschen mit zu vielen Handys

Aber tatsächlich ist Island für Fotografen eine Pilgerstätte geworden. Auch ohne Polarlichter ist das Land fotogen. Im Sommer sowieso, wenn die Landschaft der Farbpalette der Impressionisten gleicht. Aber auch im Winter, wenn sich jede farbliche Nuance zwischen weißem Schnee, schwarzem Sand, noch braunen Wiesen und grauen Straßen zeigt.

Da Island so klein ist und alles so nah beieinanderliegt, lässt sich mit dem Leihwagen ein Naturschauspiel nach dem anderen abklappern, sozusagen im Akkord. Und weil die Isländer Kurzbesuche als Zwischenlandung auf dem Weg nach Amerika gut vermarkten und viele der bekanntesten Sehenswürdigkeiten nur wenige Busstunden von Reykjavík entfernt sind, wird es kaum vorkommen, dass man irgendwo alleine ist.

Zumindest nicht an den großen Wasserfällen oder dem Geysir oder dem Spalt zwischen den Kontinentalplatten.

_Sehen Sie die schönsten Sehenswürdigkeiten im Golden Circle in diesem Video:

Darauf sollte der Islandreisende jedenfalls gefasst sein: In Island muss man sich schon in die Schlange stellen, um Fotos schießen zu können. Einer nach dem anderen. Das Land wird von Touristen neuerdings regelrecht überschwemmt: Waren es 2009 noch eine halbe Million jährlich, sind es seit 2017 weit über zwei Millionen. Und das bei einer Bevölkerung von etwa 350.000 Menschen.

Doch egal, ob es sich um Fotografen mit breiten Stativen oder Jetsetter mit Selfiesticks handelt – sie alle verbreiten ein Bild von Island, das der Realität angesichts dieser Menschenmassen nur wenig entspricht: das Bild vom unberührten Naturparadies.

_Sehen Sie die Menschenmassen an den beliebtesten Orten in dieser Galerie (klicken):

Wo auch immer wir sind, frage ich mich, wie die vielen Fotografen es schaffen, Fotos ohne Menschen zu schießen. Das kann eigentlich nur dem gelingen, der schon beim ersten Tageslicht parat steht, lange bevor die Reisebusflotten Horden an Touristen ausspucken.

Die Jahreszeit scheint für die vielen Islandbesucher keine Rolle zu spielen. Ist es kalt, wärmt man sich in den unzähligen heißen Quellen. Wie in der Blauen Lagune, einer Topattraktion, die aber keineswegs natürlich entstanden, sondern künstlich erschaffen ist. Sie liegt nur einen Katzensprung von Reykjavík entfernt. Wer auf Nummer sicher gehen will, muss sich früh genug ein Ticket im Internet reservieren, um dann wie die Ölsardinen baden zu können.

Um das bezaubernde, einsame Island entdecken zu können, ist es notwendig, sich abseits des „Golden Circle“ zu bewegen. Unter diesem Namen ist die nahe Gegend der Ringstraße rund um die Hauptstadt herum bekannt.

Wer darüber hinauskommt, wird finden, wofür Island bekannt ist: karge, unberührte, menschenleere (!) Landschaften, Straßen, die sich durch lange Täler zwischen Bergen und Vulkanen schlängeln, über Landzungen hinweg, an Fjorden entlang, über glitzernde Flüsse, durch malerische Fischerdörfer. Und immer wieder kommt das Meer in Sicht. Im Sommer leuchtend grün, im Winter weiß und grau.