Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
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Arbeitsproben

Gebärden, die die Welt bedeuten

5. April 2018 Feature, Text
Gebärden, die die Welt bedeuten

Roswitha Österle steht vor einem Kreis von Menschen und malt mit ihren Händen in der Luft – begleitend zu dem, was sie laut artikuliert. Es geht um Alltägliches, ein Pizzarezept: „Wir brauchen Salz“, sagt Österle und schüttelt einen imaginären Salzstreuer, „und wir brauchen Pfeffer“, sagt sie und dreht die Pfeffermühle.

„Die Idee dieser lautsprachebegleitenden Gebärden ist es“, erklärt Österle den 25 Kursteilnehmern, „dass diejenigen Menschen, die aufgrund einer geistigen Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, die komplexe Gebärdensprache zu erlernen, trotzdem eine Möglichkeit haben, sich verständlich zu machen.“ Die 61-Jährige ist gelernte Kommunika-tionspädagogin und arbeitet als Erzieherin und Fachlehrerin im Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) Haslachmühle im Kreis Ravensburg – Träger ist das diakonische Unternehmen „Die Zieglerschen“. Seit zwei Jahren unterrichtet Österle die vereinfachten Gebärden auch für die Öffentlichkeit. Die Zeit scheint endlich reif dafür, die Nachfrage steigt. Das war nicht immer so.

Mitarbeiter der Zieglerschen waren es, die in den 60er-Jahren die vereinfachten Gebärden entwickelt haben. Obwohl das eigentlich verboten war. Beim „Mailänder Kongress von 1880“ nämlich entschieden die führenden Gehörlosenpädagogen Europas, dass die Lautsprache der Gebärdensprache in jedem Punkt überlegen und deshalb im Unterricht vorzuziehen sei. Wollten Gehörlose also am Schulunterricht teilnehmen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Lippenlesen zu erlernen. Gebärden waren im Unterricht verboten.

Einzig ein paar US-Amerikaner, Engländer und Schweden sprachen sich im Jahr 1880 gegen diesen Beschluss aus, weil er alle Gehörlosen in einen Topf warf und deren unterschiedliches geistiges Niveau unberücksichtigt ließ. Geistig beeinträchtigte Menschen, für die das Lippenlesen zu schwierig war, wurden so schlichtweg ausgegrenzt. Der Beschluss behielt ein ganzes Jahrhundert seine Gültigkeit. Erst nach dem Gehörlosenkongress von 1980 in Hamburg begannen Pädagogen zwischen der deutschen Gebärdensprache (DGS) und den lautsprachebegleitenden Gebärden (LBG) zu unterscheiden.

Die DGS ist komplex und hat eine eigene Grammatik, die sich von der der Lautsprache unterscheidet. Beispielsweise stehen die Verben am Ende eines Satzes. Daher kann die DGS auch nicht lautsprachebegleitend verwendet werden. Die vereinfachten Gebärden dagegen schon. Die könnten „nicht als eigene Sprache angesehen werden“, sagt Ursula Belli-Schillinger, die für die Zieglerschen lange Zeit für die Kommunikation der Gehörlosen zuständig und an der Entwicklung der einfachen Gebärden beteiligt war. „Eigentlich ist das nur eine Gebärdensammlung, vergleichbar mit einem Lexikon.“ Gehörlose, die keine geistige Beeinträchtigung haben, distanzieren sich sogar ein Stück weit von den vereinfachten Gebärden: Sie sind ihnen viel zu unterentwickelt.

Doch die Pädagogen der Haslachmühle, die Mitte der 60er-Jahre damit begannen, geistig behinderte Menschen zu beschulen, scherten sich wenig um den Beschluss von 1880. Sie erkannten schnell, dass vereinfachte Gebärden im Umgang mit geistig beeinträchtigten Menschen unverzichtbar sind. „Die sind damals nach Wilhelmsdorf gefahren, wo es die Gehörlosenschule gab, und haben sich auf dem Schulhof angesehen, wie die gehörlosen Kinder miteinander gebärdeten“, erzählt Österle. Gehörlose hätten immer schon Gebärden benutzt, auch wenn diese im Unterricht verboten waren.

Nach und nach entwickelte sich in den Räumen der Haslachmühle dann die vereinfachte Gebärdensprache. In einem dicken Buch, fast 500 Seiten stark, ist sie mittlerweile zusammengefasst. Herausgegeben im Diakonie Verlag vom Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, kurz BeB, in Zusammenarbeit mit der Zieglerschen und finanziell unterstützt von der Aktion Mensch. „Die aktuelle Auflage umfasst 2000 Exemplare, gut 10 000 Stück sind aber bereits im Umlauf“, sagt Rolf Drescher, Geschäftsführer des BeB. „Wir müssen es so günstig wie möglich anbieten. Die Menschen, die darauf angewiesen sind, haben häufig ein geringes Einkommen.“

Roswitha Österle stellt das Buch im Kurs ebenfalls vor. Gut 1300 verschiedene Gebärden sind darin abgebildet. „Zu einem Drittel bestehen sie aus vereinfachten Gebärden, zu einem zweiten Drittel aus Gebärden, die der DGS entnommen sind, und das dritte Drittel stammt noch aus der Anfangszeit, als die Sprache in der Haslachmühle entstand.

Seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention im März 2009 ratifiziert wurde, gewinnen allerdings auch die vereinfachten Gebärden zunehmend an Bedeutung. Behinderte haben seither ein Recht auf Bildung und Teilhabe. Das Problem: die Gebärden auch in der Gesellschaft zu verankern.

Aber es geht aufwärts: Roswitha Österles Kurse erfreuen sich großer Beliebtheit. In den Räumen der Ambulanten Dienste in Ravensburg hat sich eine bunte Mischung von Interessenten eingefunden. Einige, wie Rosa Tagmann, kommen aus beruflichen Gründen. Tagmann arbeitet in einer Sonderschule und ist als Betreuerin für ein Mädchen mit Down-Syndrom zuständig. Die Entwicklung der 13-Jährigen ist verzögert. Lange Zeit konnte sie nicht sprechen. Über die einfachen Gebärden fand sie einen Zugang zur verbalen Sprache. „Jetzt kann sie ihre Bedürfnisse ausdrücken“, sagt Tagmann.

Oder Manuela Geiger, die beim Ravensburger Amtsgericht in der Verwaltung tätig ist und schon häufiger auf einfache Gebärden zurückgreifen musste. „Es kommen auch zu uns viele Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die zum Beispiel nicht wissen, was sie mit den Briefen anstellen sollen, die sie erhalten“, sagt Geiger. „Ich erkläre dann, was sie tun sollen, zum Beispiel wo sie unterschreiben sollen.“

Österle schulte auch schon Fahrer eines Busunternehmens, deren Linien auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nutzen, weil ein Wohnheim an der Strecke liegt. Und auch Mitarbeiter des Ravensburger Landratsamts schulte Österle, weil Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ein Recht darauf haben, dass ihre Anliegen bearbeitet werden und ihnen bei Fragen geholfen wird. Das fange schon mit einem einfachen Winken zur netten Begrüßung an.

Auch das ist ein Merkmal einer barrierefreien Gesellschaft: Dass auch diejenigen, denen die Fähigkeit verwehrt ist, eine komplexe Sprache zu erlernen, sich mit Mitmenschen austauschen können wie alle anderen auch. Und dass allein schon ein paar gestikulierte Höflichkeiten ihnen das Gefühl geben können, ein willkommener Teil der Gesellschaft zu sein.

Erschienen am 5. April 2018 in der Schwäbischen Zeitung.