Luis mit der eisernen Faust

Luis Haggenmüller ist ein gut aussehender junger Mann. Er trägt modische Kleidung und eine modische Frisur. Wenn er lächelt – und Luis lächelt oft – dann zeigt sich eine Spange. Er engagiert sich ehrenamtlich bei den Johannitern in Kißlegg, seiner Heimatgemeinde. Eigentlich ist Luis mit allem gesegnet, was sich ein 15-Jähriger wünschen könnte – außer mit zwei gesunden Armen.
Luis ist ohne linken Unterarm zur Welt gekommen. Mit Prothesen hat er deshalb schon sein Leben lang Erfahrung. Aber wie das nun mal so ist bei Heranwachsenden: Gerade erst angeschafft, ist das Stück schon wieder zu klein. Doch jetzt ist alles anders. Denn jetzt ist er in einem Alter, in dem er vermutlich nicht mehr wachsen wird. Und wenn, dann wahrscheinlich nur wenig.
Vier Jahre lang hat er auf Prothesen verzichtet. „Damit ich das Beste vom Besten bekomme“, sagt Luis. Dieses Beste vom Besten liegt nun vor ihm auf dem Tisch. „i-limb ultra revolution“ heißt es und ist eine myoelektrische Hand, eine Fremdkraftprotese. Sie übersetzt die elektrische Spannung der Muskeln in Bewegungen. Eine „Roboterhand“, wie Luis selber sagt. „Meine Hand“, korrigiert er sich selber. „Das sagt meine Therapeutin, dass ich darauf achten soll. Es ist kein Ding, sondern meine Hand.“

Luis’ neue Hand kostet ungefähr so viel wie ein gutes neues Auto. Bezahlt hat sie die Krankenkasse. Die verlangte ein Gutachten. „Ich bin sehr dankbar“, sagt Luis, „dass ich es mit sehr kompetenten Leuten zu tun hatte.“ Die haben ihm bestätigt, dass er die Hand braucht, um im Alltag zurechtzukommen. Luis ist erst der achte Mensch in Deutschland, der die Prothese von Touch Bionics aus Schottland bekommt. Und der zwanzigste auf der Welt, habe man ihm jedenfalls gesagt.
Wenn Luis die Hand anlegt, verschwindet sein Ellbogengelenk in der Prothese. Sie ist aus dunkelgrauem Silikon bis zum Handgelenk. Die Hand selber wird von einem transparenten Silikonhandschuh umschlossen. Darunter schauen vier Finger hervor, wie sie Roboter nun mal haben. Mit seinen Muskeln, deren Bewegungen die Prothese registriert, kann Luis vier Grundgriffe ausführen. Surrend fahren die Finger dann in die gewünschte Haltung.
Drei dieser Grundgriffe hat er augenblicklich so eingestellt: Die vollständig schließende Hand, um damit zum Beispiel eine Flasche zu halten; den einfachen Griff mit dem Daumen, um ein Papier zu halten; den Zweifingergriff, um wie mit einer Pinzette zu greifen. Und der vierte Grundgriff? „Das ist dann ein, äh, Jugendgriff“, stammelt er und errötet. Drei mal darf man raten, was die Hand einem dann zeigt: Einen ziemlich unhöflichen Finger.

Aber neben den vier frei definierbaren Grundgriffen beherrscht Luis linke Hand ganze 24 verschiedene Griffmuster. Die wählt er mit einem iPod aus, den er in die Prothese einlegt. Über Bluetooth verbindet sich der iPod mit der Prothese und mit einem Programm, einer App, kann Luis dann seine Hand das machen lassen, was er will. Auch komplexe Dinge. Die vier Finger können öffnen und schließen. Der Daumen kann sich zudem seitlich bewegen. Wenn Luis eine bestimmte Geste programmieren will – wie eine nicht mitgelieferte Jugendgeste zum Beispiel – dann kann er sich unter „benutzerdefinierter Griff“ jede Handstellung einspeichern, die er will.
Luis ist glücklich mit seiner neuen Hand. Das steht ihm nicht nur ins Gesicht, sondern auch ins Facebookprofil geschrieben. Luis macht keinen Hehl aus seiner Prothese. Im Gegenteil. „Die Menschen sollen keine falschen Tatsachen vor sich haben“, sagt er. Deshalb krempelt er den linken Ärmel lieber hoch über den Ellbogen, damit die Prothese gut zu sehen ist. Auch verzichtet er beim Silikonhandschuh, der die Roboterhand verdeckt, bewusst auf Hautfarbe. Seine Roboterhand soll als Roboterhand zu erkennen sein.
Da er Rechtshänder ist, reicht er normalerweise die rechte Hand zum Gruß. Seit ein paar Wochen aber – solange hat er die Hand ja noch nicht – reicht er immer häufiger die linke Hand. „Das ist total der Renner gerade“, erzählt er. Seine Freunde freuen sich für ihn. „Und die eiserne Faust ist schon weit bekannt“, scherzt er und meint damit Kopfnüsse, mit denen er nun weit im Vorteil ist. Außerdem ist Luis der Einzige, der an seinem Arm Videos schauen kann.

Aber von der Freude am Neuen und dem Spaß an der Technik abgesehen: Luis Hand erleichtert ihm vor allem das Leben. „Ohne geht es auch“, sagt er, „aber mit geht alles leichter.“ Türen öffnen, Flaschen öffnen und Fahrradfahren. Am Computer ist er allerdings ohne Prothese noch schneller. Im Moment geht es Luis darum, die Hand zu verinnerlichen, sie als Teil seiner selbst zu begreifen. „Wir sind zwar gute Freunde“, beschreibt er, wie die Hand sich für ihn anfühlt, „aber eine Beziehung haben wir noch nicht.“ Das dauert. Das braucht Zeit und Übung. Drei Therapeuten stehen ihm deshalb zu Seite.
Und noch einen wichtigen Zweck erfüllt die Hand: Sie soll Luis gesund halten. Denn das fehlende Gewicht des Unterarms verursachte fast einen schlimmen Haltungsschaden. Außerdem sind die Muskeln an seinem linken Arm nicht so gut ausgeprägt wie die am rechten. Die Prothese sorgt dafür, dass er eine gerade Körperhaltung hat und dass sein linker Arm gefordert wird. Langfristig wird seine Gesundheit ihm das danken. Und seine Krankenkasse auch. „Ohne Prothese könnte es im Alter zu massiven Gesundheitsproblemen führen“, erklärt Luis.
Als die Zusage der Krankenkasse kam, war die Freude natürlich groß. Aber es habe ihn auch aufgewühlt, erinnert er sich. Denn die Verantwortung, die er mit einer so wertvollen Prothese hat, ist ebenfalls groß. Was, wenn er sich nie wirklich damit anfreunden könnte? Aber dann beruhigt er: „Mir geht es nicht darum, etwas am Arm hängen zu haben“, sagt er, „sondern darum, etwas damit zu tun.“ Im Rettungswagen der Johanniter fährt er bereits mit.

Irgendwann, das wünscht er sich, will er selber den Rettungswagen fahren. Auch das wird ein Gutachter entscheiden. Bis dahin will er erst mal die Schule fertig machen. Die zehnte Klasse steht als nächstes an. Dann soll wahrscheinlich eine kaufmännische Schule folgen. Vielleicht sogar studieren, aber wer weiß, was bis dahin alles passiert.
Luis Mutter Diana findet jedenfalls, dass die Prothese zur genau richtigen Zeit kommt: „Luis befindet sich gerade in der Berufsfindungsphase. Da sind einfach beide Hände nötig“, sagt sie. Und Sie findet auch gut, dass Luis keinen Hehl aus seiner Beeinträchtigung macht. Im Gegenteil. Wenn er anderen ein Beispiel sein will, dann will sie das unterstützen. Genauso wie Luis’ ältere Geschwister, zwei Schwestern, ein Bruder, die alle drei ohne Beeinträchtigung zur Welt gekommen sind.
Luis greift nach der Limonadenflasche, die auf dem Tisch steht. Seine Linke, die Roboterhand hält die Falsche fest, und mit der Rechten schraubt er den Deckel auf. Das funktioniert problemlos und Luis, der dabei weiter erzählt, scheint das unterbewusst zu beherrschen. Fast, als wäre es nie anders gewesen. Eigentlich ist Luis mit allem gesegnet, was sich ein 15-Jähriger wünschen könnte. Zwei Daumen, mit denen er nach oben zeigen kann, hat er jedenfalls.
Erschienen am 27. August in der Schwäbischen Zeitung.