Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
Arbeitsproben

Buden im alten Stuttgarter Bahnhof: Nach 80 Jahren geht’s zu Ende

5. April 2013 Reportage
Buden im alten Stuttgarter Bahnhof: Nach 80 Jahren geht’s zu Ende

Die Geschichte des Schlemmergrills beginnt in einer Bretterbude. Vor 80 Jahren fing Emil Weber damit an, die Bahnarbeiter zu verpflegen und den Reisenden Proviant für unterwegs zu verkaufen. Heute leiten Webers Enkel und Urenkelin den Imbiss zwischen Gleis Acht und Neun: Udo Kemmer, mittlerweile auch schon 76, und dessen Tochter Petra Kühnle, 48.

Zumindest betreiben sie den Imbiss noch bis zum 30. Juni, dann läuft der Mietvertrag mit der Deutschen Bahn aus. Die hatte den Vertrag zunächst gekündigt, damit sich keine Geschäfte mehr in der Wartehalle befinden, wenn der Umbau des Bahnhofs im Zuge von Stuttgart 21 beginnt. Zuletzt hatte der Konzern bekannt gegeben, dass das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm, wie es offiziell heißt, 5,6 Milliarden kosten wird, wahrscheinlich sind sogar Kosten in Höhe von 6,8 Milliarden Euro. So offen die Finanzierung ist, so offen ist auch, wann der Umbau des Hauptbahnhofs beginnt.

Aber weil der Schlemmergrill eine Kündigungsfrist von einem Jahr hatte, wurde der Mietvertrag vorsichtshalber gekündigt. Zwischenzeitlich hat die Deutsche Bahn ihre Meinung wieder geändert: Der Schlemmergrill soll vorerst bleiben. Udo Kemmer und Petra Kühnle wollen trotzdem nicht weitermachen. „Böse kann man der Bahn schon sein, weil sie uns so lange hingehalten haben“, sagt Petra Kühnle. Ihr blondes Haar ist schulterlang und wenn sie lächelt, strahlt sie über das ganze Gesicht.

Petra Kühnle und Udo Kemmer vor dem Schlemmergrill im Stuttgarter Bahnhof.

Aber zu lächeln, das fällt ihr bei diesem Thema schwer: „Grundsätzlich sind wir schon traurig“, sagt sie. „Aber wir wollen keinen Ärger. Wir wollen jetzt alles gut abschließen.“ Vor allem wegen der Angestellten. Eigentlich käme die Kündigung genau richtig. „Was Neues aufmachen werde ich nicht“, sagt sie. Sie stehe kurz vor ihrem 49. Geburtstag und in dem Alter sei es noch leichter, eine Stelle zu finden. „50 ist auf dem Arbeitsmarkt eben eine magische Grenze.“ Und ihr Vater will in Rente gehen. Damit wird der letzte Familienbetrieb auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof schließen.

Dessen Nordeingang ist momentan geschlossen. Bretter versperren den Weg. Dahinter befindet sich die Baustelle des Technikgebäudes, dessen Rohbau im Herbst abgeschlossen werden soll. Auf der anderen Seite der Bahnhofshalle wirbt das Turmforum für Stuttgart 21. Erst im März hat die neue Ausstellung eröffnet: Auf mehreren Ebenen informieren dreidimensionale Modelle, Computersimulationen und Filme die Besucher über das, was umgebaut werden und wie der Bahnhof später einmal aussehen soll. Die Gleise sollen um eine Etage nach unten verlegt werden und riesige ebenerdige Bullaugen die Bahnsteige mit Tageslicht fluten. Die große Halle, in der sich die Geschäfte befinden, wird sich auch verändern.

Laut Bahn wird es in der Umbauphase gar keine Geschäfte mehr geben. Wie sie persönlich mit der Ungewissheit umgehen, das verraten die Angestellten nur im Vertrauen: Viele Ketten weisen ihre Mitarbeiter an, sich zum Thema S 21 öffentlich nicht zu äußern: „Darüber dürfen wir nicht sprechen“, sagt eine Verkäuferin hinter einer Theke mit belegten Brötchen. Vivien Schwarz, die Süßigkeiten auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofs verkauft, versteht die Sorge nicht: Es ginge schließlich um ihre persönlichen Ansichten und nicht um die des Arbeitgebers. Sie sei jedenfalls froh, dass die Demonstrationen nicht mehr im Bahnhof stattfänden. „Es hat meistens schon genervt, abends, nach stundenlanger Arbeit.“ Ausgerechnet die Montagsschicht übernimmt sie regelmäßig.

Das erste Mal gingen die Gegner vor dreieinhalb Jahren auf die Straße. Bis der Nordeingang verschlossen wurde, endeten die meisten Demos in der Eingangshalle. Die Demonstranten schlugen dabei mit Löffeln auf Kochtöpfe ein und bliesen in schrille Trillerpfeifen. Das Echo der Wartehalle wirkte wie ein Verstärker. Das Ergebnis: ohrenbetäubender Lärm. „Ich kann es ja verstehen, ich bin auch dagegen“, sagt Vivien Schwarz. Dagegen, damit meint sie den Bahnhofsumbau. Wenn die Demonstranten gekommen seien, habe sie die Türe zugezogen, das habe gegen den Lärm geholfen. „Aber ich bin froh, dass es rum ist“ sagt sie.

Die kleinen Kioske, die mitten in der Bahnhofshalle stehen, waren dem Lärm voll ausgeliefert. Michael Esters, der in der Hütte mit der Aufschrift „Tiroler Heumilchkäse“ steht, verkauft Wurst und Käse. „Willst du mal probieren?“, fragt er mit Berliner Einschlag die Passanten, wenn sie stehen bleiben, um sich die Landjäger in der Auslage anzuschauen.

Michael Esters verkauft am Stuttgarter Bahnhof Wurst und Käse.

„Letztes Jahr, da war es schlimm“, sagt Esters. Dabei grinst er und schüttelt den Kopf. Während der Kundgebungen sei rings um seinen Stand herum alles voller Menschen gewesen. Zwischen 17 und 19 Uhr habe er fast keine Wurst mehr verkauft. Aber er nimmt es den S-21-Gegnern nicht übel: „Sind doch alles nette Leute. Man kennt sich ja mittlerweile.“ Und immerhin: „Die haben bei mir ja auch eingekauft.“ Den Kiosk mietet er immer nur im Winter. Im Sommer wollen die Menschen lieber Eis als Wurst oder Käse kaufen.

Auf die bevorstehende Umbauphase blickt er mit Sorge: „Das Geschäft hängt ja davon ab.“ Im nächsten Winter könnte die Saison am Bahnhof möglicherweise ausfallen für ihn. Trotz der Ungewissheit sei der Bahnhof einer der besten Plätze, die es gibt: mit all den Reisenden, die täglich vorbeikommen. Nach dem Umbau soll es wohl wieder Platz für kleine Geschäfte geben. Aber ob dann immer noch so viele Kunden vorbeilaufen, das bezweifelt Michael Esters.

Schließlich fahren die Züge dann eine Etage tiefer ab.

Erschienen am 3. Mai 2013 in der Schwäbischen Zeitung.