Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
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Arbeitsproben

Bibliotheken sind Orte der Begegnung – Im Gespräch mit der Leiterin der Stuttgarter Bibliothek

18. Dezember 2012 Feature, Text
Bibliotheken sind Orte der Begegnung – Im Gespräch mit der Leiterin der Stuttgarter Bibliothek

Sie ist die Herrin der Bücher: Ingrid Bussmann, Direktorin der Stadtbibliothek Stuttgart. Vor einem Jahr ist die Bücherei in den Neubau gezogen. Auch wenn das eigenwillige Gebäude bei manchem Stuttgarter auf Ablehnung stieß, kann die Bibliotheksdirektorin stolz darauf verweisen, dass 50 Prozent mehr als vorher einen Leseausweis beantragt hätten. Vor allem bei jungen Leuten sei das Interesse groß, sagt Ingrid Bussmann im Gespräch mit Michael Scheyer.

Scheyer: Frau Bussmann, das Internet übt einen enormen Druck auf den Buchhandel aus. Wie sieht es mit der Stadtbibliothek aus? Ist sie noch konkurrenzfähig mit den Angeboten im Internet?

Bussmann: Ja, ist sie. Den Zugang zu Informationen für jedermann hatten Bibliotheken lange als Alleinstellungsmerkmal. Heutzutage bietet das Internet den Zugang zu Informationen für jedermann. Das hat sich verändert. Bibliotheken sind Orte der Begegnung geworden. Der englische Soziologe Richard Sennett schreibt in einem seiner Bücher, dass Menschen in einer vernetzten Welt ein starkes Bedürfnis nach Verwurzelung entwickeln und ein Bedürfnis nach realen Orten. Und ich glaube, dass das die Chance der öffentlichen Bibliothek ist: Dass sie ein Zentrum in der Kommune ist – nicht nur ein Ort des Lernens, sondern ein Ort der Begegnung.

Scheyer: Was für Begegnungen sind das?

Bussmann: Wir bieten Workshops, Lesungen und Vorträge an, die zu Diskussionen anregen und Impulse geben sollen. Um sich in der Welt der virtuellen Medien orientieren zu können, braucht man bestimmte Kompetenzen. Man muss mit Informationen umgehen können. Man muss wissen, auf welche Informationen man sich verlassen kann. Genau da sehe ich unsere Chance. Die liegt nicht darin, dass wir Bücher ausleihen. Die Chance der Bibliothek ist die Verbindung dieser verschiedenen Medienwelten. Sie kann dieser reale Ort sein, an dem Kompetenzen vermittelt werden.

Scheyer: Was halten Sie von der Deutschen Digitalen Bibliothek?

Bussmann: Ich denke, dass das ein ganz wichtiges Angebot ist für den Bereich Forschung und Lehre. Dass man eben die Quellen digital zugänglich macht. Und das wird in Zukunft sicher noch ausgebaut werden. Denn gerade im Forschungsbereich wird sehr viel digital publiziert. Das geht uns als kommunale Bibliothek jedoch weniger an.

Scheyer: Über 5,6 Millionen Objekte hält die digitale Bibliothek bereit. Wie findet man sich da zurecht?

Bussmann: Man muss sehr gezielt schauen können. Und da sind wir ja wieder bei dem Thema Kompetenzen. Wir vermitteln, wie man in der Fülle der Informationen das findet, was man sucht, eben das, was man finden will. Am Regal ist das Stöbern einfacher. Denn es bleibt überschaubar, während man sich im Internet schnell verliert.

Scheyer: Haben sie auch ein digitales Angebot?

Bussmann: Wir haben uns einem bundesweiten Projekt angeschlossen: die sogenannte Onleihe. Sie brauchen dazu den Ausweis einer Bibliothek. Dann können sie digitale Bücher, E-Paper und Audiofiles herunterladen. Wie eine Ausleihe, für eine begrenzte Zeit, dann löst sich die Datei von alleine wieder auf. Das ist unsere Möglichkeit, digitale Dokumente zugänglich zu machen. Problem: Urheberrecht. Wir können nicht einfach, irgendwelche digitalen Bücher kaufen und ausleihen. Wir müssen die Lizenzen erst mit den Verlagen aushandeln.

Scheyer: Haben Sie auch schon mal ein digitales Buch gelesen?

Bussmann: Ich muss sagen, ich bin immer noch kein E-Book-Leser. Aber ich arbeite viel mit dem PC, wenn es um Fachtexte geht. Ich arbeite, wenn ich mich vertiefend beschäftigen möchte, immer noch lieber mit Büchern. Weil ich da hin- und herblättern kann. Ich finde das handlicher. Aber ich ergänze das mit digitalen Quellen. Junge Leute arbeiten natürlich eher mit den digitalen Medien. Aber sie nutzen interessanter Weise auch immer noch Bücher – für bestimmte Zwecke. Und ich glaube, dass das Buch die Vertiefung mit Informationen stärker abdecken wird.

Scheyer: Was ist für Sie ein gutes Buch?

Bussmann: Das finde ich eine schwierige Frage. Das kommt natürlich erst einmal darauf an, ob man über Belletristik oder über Sachliteratur spricht. Aber in der Zukunft wird sicherlich wichtig sein, dass die Bücher das Besondere gegenüber der digitalen Werke noch stärker hervorheben: das Haptische. Den reinen Text habe ich ja auch auf dem Computer. Aber wenn ich ein Buch mit allen Sinnen wahrnehmen will, sollte es schön gestaltet sein, einen schönen Einband und schönes Papier haben. Die Inhalte, die sind ja gleich. Da sind die gleichen Kriterien anzulegen. Aber es kommt mir auch so vor, dass immer mehr Verlage auf schön gemachte Bücher Wert legen. Die dann auch Freude machen, in der Hand zu haben. Da sehe ich auch die Chance für den Buchmarkt.

Scheyer: Sie lesen beruflich sicherlich jede Menge Sachbücher und Fachliteratur. Was lesen Sie denn privat gerne?

Bussmann: Ich bin schon lange nicht mehr dazu gekommen, privat zu lesen. Ich lese natürlich sehr viel im Hinblick auf unsere Abendveranstaltungen, so dass ganz wenig Zeit bleibt für private Lektüre. In den letzten zwei Jahren habe ich fast alles zweckorientiert gelesen. Aber ich gehe nächstes Jahr in Pension, dann habe ich Zeit, privat zu lesen. (Lacht.)

Erschienen am 8. Dezember 2012 in der Schwäbischen Zeitung.