Michael Scheyer
Journalist | Filmemacher | Dozent
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Arbeitsproben

Der Hund mit der roten Mütze – zu Besuch in einer Inklusionsklasse

9. Juni 2012 Reportage, Text
Der Hund mit der roten Mütze – zu Besuch in einer Inklusionsklasse

Alle 22 Kinder der 1a sehen aus wie ganz normale Erstklässler: Die Mädchen tragen mit Vorliebe rosa, gelbe und bunt gestreifte T-Shirts. Die Jungs mögen Pullover mit Kapuzen auf dem Rücken und wilden Kerlen auf der Brust. Tatsächlich aber haben sechs Mädchen und Buben der 1a einen „besonderen Förderbedarf im Bereich Sprache und Kommunikation“, wie es korrekt heißt. Ihretwegen gibt es an der Auentalschule in Owingen bei Überlingen die inklusive Außenklasse. Inklusiv, das ist sie, weil Kinder mit Förderbedarf gemeinsam lernen mit Kindern ohne Förderbedarf.

So will es die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“. Deren 24. Artikel gesteht körperlich und geistig benachteiligten Menschen das Recht auf eine Bildung zu, das ihnen eine „wirkliche Teilhabe an einer freien Gesellschaft“ ermöglicht. In einfachen Worten steht da außerdem in einer inoffiziellen Version, die extra für Behinderte geschrieben wurde: „Alle Kinder sollen in eine Schule gehen können. Auch behinderte Kinder.“

Den Unterricht in der 1a teilen sich zwei Lehrkräfte: Die Sonderschullehrerin Angela Müller ist verantwortlich für die sechs Kinder mit Förderbedarf. Diese bilden die Außenklasse, die offiziell dem Hör-Sprachzentrum Wilhelmsdorf unterstellt ist. Kerstin Pegels-Steindamm ist für die 16 regulären Grundschüler zuständig. Diese Aufteilung steht so auf dem Papier.

An der Sitzordnung im Klassenzimmer ist nicht erkennbar, welches Kind zu welcher Klasse gehört. Sie alle zusammen sind die 1a. Fast immer sind beide Lehrerinnen anwesend und wenden sich an alle Kinder. Bei Bedarf arbeitet eine mit einzelnen Kindern, ohne den Unterricht der Übrigen zu unterbrechen.

Heute beginnt die erste Stunde in einem Sitzkreis. Angela Müller malt mit ihren Händen Bilder in die Luft. Die Kinder verstehen, was gemeint ist. „Wer möchte das Gedicht heute alleine aufsagen?“, fragt die Lehrerin. Gleich ein paar Finger fliegen in die Luft. Lukka (Namen der Schüler und Eltern geändert) darf, dreht sich zur Kreismitte und gibt den Blick auf ein Hörgerät frei.

Die Kabel, die von den Empfängern wegführen, haften an Lukkas Kopf, nahe den Ohren. „Das ist ein Cochleaimplantat“, erklärt Angela Müller nach der Stunde im Lehrerzimmer. Es übernimmt die Funktion des Innenohrs und überträgt akustische Signale an den noch intakten Hörnerv. Lukka hört von Geburt an nichts.

Dank des Implantats sitzt er nun hier im Kreis und sagt ein Gedicht auf: „Wir sind die ersten im Garten, wollen auf die anderen warten,…“ rezitiert er einwandfrei. Anders als Felina. Frau Pegels-Steindamm fragt, wer die hübschen Blumen mitgebracht habe, die inmitten des Stuhlkreises stehen. Felina meldet sich: „Die I-i-i-rina.“ Felina ist aufgeregt, ihre Sprache entlarvt es. Keines der anderen Kinder zeigt derweil eine Reaktion. „Warum auch?“, fragt Kerstin Pegels-Steindamm später. „Für die Kinder ist das ganz normal.“ Noch nie habe eines Felina auf die Redeflussstörung angesprochen.

Felinas Mutter Gudrun Sander ist die Elternsprecherin der Außenklasse. Seitdem sich herausgestellt hat, dass ihre Tochter unter einer Redeflussstörung leidet, kümmert sich Gudrun Sander um die bestmögliche Förderung für Felina. Gleichzeitig will sie verhindern, dass ihre Tochter die Förderung teuer mit Lebensqualität bezahlt: Ohne die Außenklasse müsste die Siebenjährige das Hör-Sprachzentrum in Wilhelmsdorf besuchen. Der Bus, der mehrere Kinder aufsammelt, fährt anderthalb Stunden dorthin. Das wäre nicht nur umständlich gewesen. Auch hätte Felina nicht gemeinsam mit ihren Geschwistern zur Schule gehen können.

Wohnortnähe ist ein wichtiges Kriterium für wirkliche Inklusion. Lange Wege zu Förderschulen diskriminieren zusätzlich. Bislang gibt es in Baden-Württemberg noch keine gesetzliche Regelung für ein inklusives Bildungssystem. Gegenwärtig findet eine Testphase in fünf Modellregionen (Konstanz, Biberach, Stuttgart, Mannheim und Freiburg) mit 545 Schülerinnen und Schülern statt. Die Erfahrungen dieses Modellversuchs sollen die Basis für ein neues Schulgesetz liefern, das die Landesregierung zum Schuljahr 2013/2014 auf den Weg bringen will. Bis dahin ist Kreativität gefragt.

Man müsse die UN-Konvention mit realistischen Augen betrachten, meint Klaus Moosmann, der Leiter des Schulamts Markdorf. Von heute auf morgen seien nicht alle Bestimmungen umzusetzen. Man denke nur an kostspielige Umbaumaßnahmen, die für eine Barrierefreiheit notwendig seien. Es brauche etwas Zeit, aber die Schulen seien bereits auf dem Weg. „Bis das neue Schulgesetz da ist, versuchen wir in Abstimmung mit den Eltern die optimale Lösung für jedes Kind zu finden.“

Beim Lesememory im Klassenzimmer stellt Felina ihre Mitspieler vor: „Das ist der Henrik, und das ist die Christina, und ich bin die Felina.“ Flüssig. Dann zählt sie aus, wer von den dreien beginnen soll: „Eene Meene Miste, es rappelt in der Kiste,…“ Nicht ein einziges Mal stolpert sie über den Abzählreim. Der Rhythmus macht‘s.

Mitspieler Henrik hat keinen Förderbedarf. Das Lesememory macht ihm trotzdem Spaß. Seine Mutter Daniela Noss ist die Elternsprecherin der regulären Klasse. Über die Inklusion freut sie sich, denn sie ist überzeugt, dass das Sozialverhalten der Kinder dadurch positiv geprägt wird. Außerdem schätzt sie den Bonus des Team-Teachings: „Zwei Lehrerinnen für 22 Kinder! Die Aufmerksamkeit, mit der sich die Lehrerinnen den Kindern widmen können, ist eine ganz andere, als wenn sie alleine wären.“

„Die beiden arbeiten fantastisch zusammen“, bestätigt Winfried Boos, der Schulleiter der Auentalschule. Er schätzt die Anwesenheit der Sonderschullehrerin an seiner Grundschule. Das ganze Kollegium profitiere von ihrem Know-how. Kerstin Pegels-Steindamm unterstreicht das: „Ich lerne viel durch die sprachtherapeutische Arbeit. Zum Beispiel die kindgerechte Lehrersprache. Als Sonderpädagogin ist Angela Müller darin besser geschult.“

Dass es die Außenklasse in Owingen gibt, ist dem Einsatz des Schulleiters zu verdanken: Bei einem Besuch des Owinger Sprachheilkindergartens „Papperlapapp“ erfuhr er eher zufällig, dass sechs Kinder gleichzeitig auf die Schule wechseln sollten. Und zwar nach Überlingen, wo es bereits eine Außenklasse gab. „Warum soll das nicht in Owingen möglich sein?“, dachte sich Boos. Umgehend informierte er alle zuständigen Stellen über seinen Plan, eine inklusive Außenklasse in Owingen zu installieren: die Schulkonferenz, die Gesamtlehrerkonferenz, den Gemeinderat, das Schulamt und die Sonderschule in Wilhelmsdorf, die er ebenso schnell überzeugen konnte wie alle anderen: „Die waren hellauf begeistert, dass es eine Schule gibt, die die Initiative ergreift.“

Die Inklusion in Owingen trägt Früchte, das zeigen die Fortschritte, die Christina und Leon seit ihrer Einschulung gemacht haben. In der letzten Stunde nimmt Frau Müller die beiden mit in das Therapiezimmer nebenan. Sie sind den ganzen Tag kaum aufgefallen. Das überrascht nicht, denn es sind mutistische Kinder. So gut es geht, vermeiden sie Situationen, in denen sie sprechen müssen. Leon habe am Anfang fast gar nichts gesagt und wenn, dann nur Einsilbiges. Mittlerweile spricht er in ganzen Sätzen und vergisst vor lauter Quasselei das Mittagessen.

Beim Quartettspiel in der Therapiestunde spricht er sehr leise: „Frau Müller, hast du den Hund mit die rote Mütze?“ „Du meinst, den Hund mit DER ROTEN Mütze?“, verbessert Frau Müller lächelnd. „Nein, den Hund mit DER ROTEN Mütze habe ich nicht“, wiederholt Frau Müller. Christina kichert. Damit ist klar, wer den Hund mit der roten Mütze hat. Leon mustert die kichernde Christina, versteht, grinst in sich hinein, ordnet seine Karten neu, liest sie alle noch einmal konzentriert durch, bereitet sich auf seine nächste Runde vor und fragt: „Christina, hast du den Hund mit der roten Mütze?“

Erschienen am 9. Juni 2012 in der Schwäbischen Zeitung.